Knüppel statt Kugeln
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Bundeswehr-Soldaten üben Polizei-Einsätze im Kosovo
Soldaten in Polizei-Mission: Was deutsche Politiker seit den Terror-Anschlägen in den USA diskutieren, praktiziert die Bundeswehr auf dem Truppenübungsplatz bei Hammelburg. Soldaten bereiten sich dort mit Schlagstöcken, Schutzschilden, Wasserwerfern und Gummi-Geschossen auf ihren Einsatz im Kosovo vor.
Hammelburg. Das einstige 400-Seelen-Dorf Bonnland scheint friedlich in Franken zu liegen. Die letzten Einwohner haben es Anfang der 60er-Jahre verlassen und ihre Häuser der Bundeswehr verkauft. Bonnland ist die weltweit einzige gewachsene Ortschaft auf einem Truppenübungsplatz.
In den vergangenen zwei Wochen bezogen Soldaten die Häuser ‑ als Albaner, Serben und Roma verkleidet. Sie verwandelten Bonnland in ein kosovarisches Dorf, wie es die Bundeswehr von ihren Kfor-Einsätzen her kennt. Das einzige Café im Ort trägt einen albanischen Namen. Es gibt Kaffee und kleine Speisen.
Auf dem Marktplatz stehen Verkaufsstände, in einem rostigen Fass brennt ein Feuer. An einer Fassade hängt die Flagge des albanischen Unabhängigkeits-Kampfes ‑ ein Doppelkopf-Adler auf rotem Tuch. Auf den Straßen ist hin und wieder ein Fahrzeug der UCK-Nachfolge-Organisation TMK zu sehen. Aus einem Haus dudelt albanische Folklore-Musik.
Vor dem Sitz des Flüchtlings-Hilfswerks UNHCR der Vereinten Nationen spielen junge Männer Fußball. Eine Postenkette der Bundeswehr begrenzt ihr Spielfeld auf einer Seite. Sie schützt das Haus einer Roma-Familie. Als der Ball auf die Schutzschilde zufliegt, kickt ihn ein Soldat zurück. Das verbuchen die Beobachter unter dem Stichwort „vertrauensbildende Maßnahme“.
Ein Protest-Zug mit rund 30 Albanern bringt am späten Vormittag Unruhe in das Dorf. Der Tross weicht von der genehmigten Strecke ab. Ein Soldat spricht mit dem Anführer. Die Bundeswehr nennt das Gesprächsaufklärung. Sie soll einer Eskalation vorbeugen helfen. Das gelingt in diesem Fall ‑ die Demonstranten kehren um. Ihr Protest richtet sich gegen Roma im Ort, vor deren Haus die Soldaten stehen.
Als die Albaner auf das Militär zukommen, verstärken Radpanzer die Sperre ‑ später ein Kettenpanzer „Marder“, an dem ein Gitter des Bundesgrenzschutzes (BGS) montiert ist. Panzer dieses Typs dürfen im Kosovo (noch) nicht eingesetzt werden. Wenn die Erlaubnis kommt, sollen die Soldaten darauf vorbereitet sein, erklärt Oberstleutnant Harald Morack, der die Kontingent-Ausbildung in Hammelburg leitet.
Morack und sein Team sind ständig bemüht, das Trainingsprogramm weiterzuentwickeln. Ausbilder verschaffen sich immer wieder ein Lagebild im Kosovo. „Kein Kontingent wird wie das andere ausgebildet“, erklärt Oberst Hans-Jürgen Folkerts, der das Hammelburger Ausbildungszentrums für Einsätze der Vereinten Nationen leitet.
Neu sind in diesem Herbst Wasserwerfer und Impuls-Patronen, eine Art Gummi-Geschosse. Die Ausbilder führten sie nach den Zwischenfällen in Mitrovica am 31. Januar und 1. Februar dieses Jahres ein. Bei Demonstrationen gegen die französische Kfor hatten deutsche Soldaten Stunden lang im Steine-Hagel gestanden. „Bis dahin war der Abstand zwischen Soldat und Demonstrant eine Armlänge“, sagt Folkerts. „Da galt es mehr Distanz hinein zu bringen.“
Wasserwerfer boten sich an, weil sich dafür die Löschfahrzeuge der Heeresflieger verwenden lassen, die im Kosovo stationiert sind. Sie arbeiten mit einem Wasserdruck von acht bis 16 Bar. „Bei acht Bar auf den Rücken haben Sie Probleme, stehen zu bleiben“, sagt der Oberst. Er hat das selbst ausprobiert. Und die Impuls-Patronen seien im Einsatzland „in sehr kurzer Zeit“ verfügbar. Sie werden mit 40-Millimeter-Granatpistolen verschossen. Reichweite: 50 Meter.
Tränengas und Pfeffer darf die Bundeswehr nicht einsetzen, weil sich die Bundesrepublik völkerrechtlich verpflichtet hat, darauf zu verzichten. Das ist aus Sicht von Hans-Jürgen Folkerts ein Handicap. „Wir haben noch nichts, um bei tausenden Menschen in die Tiefe einzudringen.“ Harald Morack ergänzt: „Wir haben kein Mittel, um so eine Sache gewaltfrei aufzulösen.“
Der Oberstleutnant unterscheidet zwischen zwei Demonstrations-Formen. Das eine ist eine „kompakte Menschenmenge, stehend oder in Bewegung, oft gesteuert, die ein bestimmtes Ziel verfolgt.“ Im Kosovo habe die Bundeswehr erfahren, dass sich binnen zehn bis 15 Minuten tausende Menschen mobilisieren lassen.
Den zweiten Demonstrations-Typ charakterisiert Morack als „Intifada-Situation“. Er meint damit Steine werfende Gruppen, die unabhängig voneinander handeln. Oft seien Kinder dabei. Die Bundeswehr muss in solchen Situationen abriegeln, lenken, auflösen und einkesseln können.
Bei der Kompanie-Übung in Bonnland, bei der sich mehr als 70 Auszubildende und ebenso viele Rollenspieler gegenüber stehen, eskalierte die Situation innerhalb von Minuten. Steine fliegen ‑ bei der Übung sind sie mit Schaumstoff umwickelt. Demonstranten rennen gegen die Postenkette an, versuchen auf Panzer zu klettern. Nebelkerzen simulieren die Wirkung von Molotow-Cocktails. Die Soldaten wehren sich mit Schlagstöcken und Kübelspritzen. Sie täuschen Hiebe an. Nur vereinzelt fahren die Knüppel zu weit aus, so dass ein Ausbilder mahnend eingreifen muss.
Mehrere Stunden lang stellen sich die Soldaten in Polizei-Manier gegen Gewalttätige, die sie im Krieg mit zwei bis drei Handgranaten bekämpfen würden. Als einer die Demonstration mit dem Maschinengewehr auflöst, ist die Übung zu Ende ‑ beziehungsweise unterbrochen, um aus der Lage vor dem Kugelhagel weiterzumachen. Situationen, in denen der Waffen-Einsatz im Kosovo erlaubt wäre, werden bei der Ausbildung vermieden. „Sonst haben die Soldaten das Bild im Kopf“, erklärt Oberstleutnant Morack. Sie würden im Kosovo oder in Mazedonien womöglich vorschnell militärische Gewalt anwenden.
Die künftigen Kfor-Leute schwitzen unter ihren Helmen. Die Gesichter sind verzerrt, wenn die Fäuste aufgebrachter Demonstranten gegen ihre Schilde prasseln. Im Moment der körperlichen Konfrontation scheint die Grenze zwischen Ernstfall und Übung zu verschwimmen. Morack bestätigt das: „Für manche ist das eine Ernstfall-Situation.“ Es geht nicht ums Überleben, aber darum, nicht überrannt zu werden, um Blutergüsse zu vermeiden und um das Gefühl, der Prügelknabe zu sein.
Es gelingt den Demonstranten, einzelne Soldaten aus der Schilder-Deckung zu zerren. Feldjäger versuchen, sie zurückzuholen. Die Postenkette öffnet sich kurz, ein Greiftrupp stürmt heraus, befreit die „Kameraden“ und verschwindet wieder hinter den Schutzschilden. Mehr als drei, vier Sekunden dürfen nicht verstreichen, ehe die Feldjäger zuschlagen. Sonst ist der eigene Mann verloren.
Das passierte während des jüngsten Vorbereitungslehrgangs ein Mal. Die Demonstranten konnten einen Soldaten als Geisel nehmen. Sie sperrten ihn im besetzten UNHCR-Gebäude ein und wollten mit ihm Albaner frei pressen. Als der Kompanie-Chef den Forderungen nicht nachgab, setzten die Demonstranten das Haus in Brand. Im Ernstfall wäre der Soldat tot gewesen.
Diplom-Psychologe Eckhard Bucher weiß in diesem Moment, dass er sich um diesen Auszubildenden besonders kümmern muss. Von Demonstranten herausgezogen zu werden, sei belastend für die Betroffenen, erklärt der Oberstleutnant der Reserve, der die Manöver als Psychologe begleitet. Sie fühlen sich von ihren Kameraden im Stich gelassen.
„Die Rollenspieler neigen dazu, immer noch einen draufzusetzen, um die Ausbildung noch spektakulärer zu machen“, sagt Eckhard Bucher. „Wenn wir die Spieler vier Wochen lang machen ließen, dann hätten wir Erschießungs-Szenen.“ 1996 spielten und filmten Soldaten in Hammelburg Vergewaltigungs- und Hinrichtungs-Szenen.
Das hatte für die Manöver mit Rollenspielern Konsequenzen. Dienst und Rolle sind seither strikt getrennt. „Nach dem Theater wird abgeschminkt“, sagt Bucher. Nach dem Manöver müssen sich die Darsteller beispielsweise umziehen und sie dürfen nicht das gebrochene Deutsch weiterreden, das sie tagsüber pflegen. Rollen-Wechsel sollen gewährleisten, dass sich keiner zu sehr mit seiner Rolle identifiziert. Die Bundeswehr reagierte damit auf Beschwerden, die Ehefrauen von Soldaten vorbrachten. Ein Rollenspieler war beispielsweise über Wochen hinweg als Obermilizionär eingesetzt. Er hatte sich offenbar einen anderen Tonfall angewöhnt, den er nicht einmal zu Hause ablegte.
An den Geisel-Stationen in Wildflecken gehen die Ausbilder bis an die psychischen Belastungsgrenzen. Was dort geübt wird, umschreibt Oberst Folkerts mit den Stichworten: „Deeskalieren, Überleben, alle Heil nach Hause bringen.“ Dabei gilt nach Auskunft von Eckhard Bucher der Grundsatz: „Die Menschenwürde muss gewahrt bleiben.“ Die Frage, welche Seite verloren hat, dürfe sich nicht einseitig stellen, sagt der Psychologe. Es gelte eine möglichst realistische Situation zu stellen und zu lösen. „Wenn das gelingt, haben beide gewonnen.“
„Die Kompanie soll und muss Erfolg haben“, sagt Hans-Jürgen Folkerts. „Die Männer müssen von hier weggehen und denken, dass können wir“, betont Eckhard Bucher. Rollenspieler und Auszubildende dürften sich nicht im Frust trennen. „Es ist wichtig, dass sie das Geschehene miteinander besprechen.“
Die Manöver-Kritik läuft in Hammelburg anders ab, als sonst bei der Bundeswehr. Der Vorgesetzte bezieht die Mannschaft mit ein. Jeder kann sich äußern, warum er in welcher Situation wie gehandelt hat. Von den Rollenspielern bekommen die Soldaten eine Rückmeldung, wie ihre Vorgehensweise bei der „Bevölkerung“ angekommen ist. So erfahren sie es, wenn zum Beispiel der Umgangston zu scharf war oder sich einzelne Zivilisten buchstäblich zu derb an die Wand gedrückt fühlten. Umgekehrt können die Soldaten mitteilen, was es für ein „Scheißgefühl“ ist, von Demonstranten verschleppt zu werden.
Dieses Dialog-Prinzip zieht sich wie ein roter Faden durch die zweiwöchige Kosovo- und Mazedonien-Vorbereitung in Hammelburg. Das beginnt am Sandkasten, wo die Stellung der Spielzeug-Panzer und das Vorgehen der Bleisoldaten gemeinsam diskutiert werden. Aus Sicht von Oberst Folkerts hat das den Vorteil, dass nachher jeder hinter der Lösung steht.
In Patrouillen-Stärke gehen die Soldaten auf diese Weise Probleme wie die Menschen-Rettung aus einem Minen-Feld, das Versorgen von vielen Verletzten sowie den Schutz von Gebäuden, Veranstaltungen und Personen an. Ob sie im Sandkasten richtig geplant haben, stellt sich beim Gelände-Rundgang oder beim Üben einzelner Situationen heraus. Erst dann geben sich die Soldaten dem eigentlichen Szenario hin, das meist erschwerende Überraschungen birgt. Neben den Verletzten, bei denen zum Teil Darmwindungen aus den Wunden klaffen, kann beispielsweise plötzlich ein Toter liegen, dem es bei der Explosion einer Autobombe den Unterleib zerfetzt hat.
Finale der Hammelburger Wochen ist die so genannte Bataillons-Aufgabe. Rund 350 Soldaten müssen das serbische Viertel von Bonnland bewachen, Serben zum Einkaufen begleiten, Serben rücksiedeln, einen Attentäter aus einem Haus holen und nebenbei rund 350 aufgebrachte Albaner beruhigen. In diesem Rahmen erleben die Soldaten, wie sich die bloße Präsenz von Militär eskalierend auswirken kann ‑ dass weniger manchmal mehr ist.
Bereits bei den Patrouillen-Aufgaben haben die Soldaten gelernt, dass es meist mehrere Reaktionsmöglichkeiten und kein eindeutiges Richtig oder Falsch gibt. In einem Zeitraum von zwei Wochen muss sich die Ausbildung aber auf die Grundlagen beschränken. Oberstleutnant Harald Morack sagt: „Wir können uns natürlich nicht mit den Sondereinheiten der Polizei messen.“ Ende des Jahres beginnt für die Soldaten aus Marienburg und Gotha der Einsatz im Kosovo und in Mazedonien.
Andreas Ellinger
Eine Kurzfassung dieser Reportage erschien im Politik-Ressort der Südwest Presse.
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