„Man weiß nicht, wo man hingehört“
Veröffentlicht in: Berichte, Migration
Originalartikel aus der Südwest Presse Horb als PDF
Türkisch denken, deutsches Recht studieren – wie es Ilknur und Ayse an die Uni geschafft haben
Ilknur Suhta und Ayse Durmaz beschäftigen sich täglich mit deutschen Gesetzen. Nicht für den Einbürgerungs-Test lernen sie, sondern für das (Berufs-)Leben. Die jungen Frauen türkischer Herkunft studieren Jura in Tübingen. Ilknur kommt aus Nordstetten und ist Deutsche, Ayse kommt aus Mitteltal und ist Türkin – und will es bleiben. Unabhängig voneinander haben sie erlebt, wie schwierig es ist, in Deutschland integriert zu werden.
Horb/Tübingen: Integriert ist, wer sich integriert hat und integriert wurde. Ayse Durmaz (23) und Ilknur Suhta (22) haben sich integriert: Sie sprechen nahezu akzentfrei Deutsch und studieren der Deutschen wichtigste Errungenschaft: die freiheitlich-demokratische Grundordnung. In ihrem Geiste sind sie von ihren Eltern erzogen worden – auch wenn das mancher Lehrer und mancher Berufsberater nicht wahrhaben wollte. Ilknur und Ayse haben mehrere Situationen erlebt, in denen ihr Integrationswille beinahe gebrochen worden wäre: am Ende der Hauptschule, am Ende der Werkrealschule und am Ende des Wirtschafts-Gymnasiums. Erst hieß es: Hört doch lieber auf – besser ein guter Hauptschul-Abschluss als ein schlechter Realschul-Abschluss. Dann hörten sie: Geht doch nicht aufs Gymnasium, das ist zu schwierig. Macht lieber eine Ausbildung. Und zuletzt kam die Berufsberatung – das „Schlimmste, was es gibt“, wie sich Ilknur Suhta erinnert. Dort musste sie sich anhören: Dein Vater lässt dich doch eh nicht gehen – lass’ das Studieren, mach’ eine Ausbildung. „Das System an sich ist ja perfekt. Du kannst immer weiterkommen“, fasst Ilknur Suhta zusammen. „Aber im System stoppen sie Dich.“ Ihre Freundin Ayse nickt.
Dass sie es trotz aller frustrierenden Erlebnisse bis auf die Uni geschafft haben, verdanken die Studentinnen ihren Eltern, wie sie beide betonen. Ihre Väter ließen sie folglich gehen – zunächst bis nach Gießen. Aber das war den jungen Frauen nach einer Weile zu weit entfernt von den Eltern, so dass sie an die Tübinger Universität gewechselt haben: „Der Reiz des Wegziehens war weg“ – weil sie es selbstverständlich durften.
Am Freudenstädter WG (Wirtschafts-Gymnasium) haben sie sich kennengelernt – jetzt wohnen sie in einer Tübinger WG. Mit 20 Jahren sind sie aus dem Hotel „Mama“ ausgezogen und haben prompt erlebt, wie wichtig das ist. Ilknur Suhta sagt: „Zuhause hätten wir beispielsweise nie gelernt, wie ein DSL-Anschluss funktioniert.“ Aus dem weltoffenen Elternhaus heraus ging es mit einem eigenen Anschluss an den Daten-Highway in die weite Welt des Internets.
An der Uni angekommen stellten die beiden fest, dass sie auch andere Fächer hätten studieren können. Aufgrund der Berufsberatung, die kraft Herkunft der jungen Frauen zur reinen Lehrstellen-Beratung geraten war, kannten sie nur die klassischen Studienfächer: Jura, Medizin und Informatik. „Wenn ich besser informiert gewesen wäre, hätte ich vielleicht etwas anderes studiert“, sagt Ilknur Suhta – Empirische Kulturwissenschaften zum Beispiel. Und Ayse Durmaz wäre von Vorneherein lieber Journalistin geworden. Aber sie wusste nicht, wie sie das anpacken soll. Bei Ilknur ist es anders: „Jura macht mir wirklich Spaß.“ Ihre Freundin dachte indes nach dem zweiten Semester ans Aufhören. Auch in dieser Frage ließen Ayses Eltern ihrer Tochter übrigens alle Freiheiten: „Wenn Du nicht mehr weitermachen möchtest, machst Du eben etwas anderes…“ – Ayse Durmaz entschied sich fürs Weitermachen.
Die Freundinnen sind inzwischen im sechsten Semester und bereiten sich auf ein Auslandsjahr vor – in der Türkei. Einen Monat lang haben sie bereits den Arbeitsalltag in einer Istanbuler Anwalts-Kanzlei erlebt. Und wer glaubt, als Frauen seien sie dort aufgefallen, der sieht sich eines falschen Vorurteils überführt: Zwei von drei Staatsanwälten, die sie kennengelernt haben, waren Staatsanwältinnen. Und die Kanzlei, die ihnen die Praktikums-Plätze angeboten hat, wurde von einem Ehepaar geführt.
Türkische Türken sind lockerer
Ilknur Suhta und Ayse Durmaz haben festgestellt: In der Türkei wird manches lockerer gehandhabt, als es in Deutschland vermutet wird – beziehungsweise lockerer, als es von manchen Türken in Deutschland gelebt wird. Beispiel Zwangsheirat: In dem kleinen Dorf, aus dem ihre Familie komme, würden den Mädchen zwar Männer vorgestellt, erzählt Ilknur – sie würden aber gefragt, ob sie heiraten wollen. Auf diese Weise finden sich oft Türken aus Deutschland und Türkinnen aus der Türkei. Ayse und Ilknur vermuten, dass manche Hochzeit eher für den türkischen Mann aus Deutschland Zwang bedeutet als für die Partnerin aus der Türkei. Denn für manche junge Frau sei eine Heirat nach Deutschland mit großen Hoffnungen verbunden.
Die Freundinnen haben beobachtet, dass bei manchen türkischen Eltern in Deutschland „die Zeit stehengeblieben“ ist. Ilknur Suhta: „Sie haben sich in Deutschland nicht angepasst und gleichzeitig die Entwicklung in der Türkei nicht mitbekommen.“ Ayse Durmaz hat kürzlich eine frühere Mitschülerin getroffen, deren Eltern sie nicht zur Ausbildung nach Stuttgart gelassen haben. Und Ilknur sagt: „Alle wollen sie das Beste für ihre Kinder – aber manche wollen sie nicht von zuhause weglassen.“ Trotz solcher Negativ-Beispiele sind die Jura-Studentinnen von Medien-Berichten genervt, die den Eindruck erwecken, dass die Zwangsheirat unter Türken in Deutschland die Regel sei. Sind es mehr oder weniger als die Hälfte, die zur Heirat gezwungen werden? „Viel weniger als die Hälfte“ – da sind sich Ilknur und Ayse sicher.
Dass in Deutschland aufgewachsene Türken anders als Türken aus der Türkei sind, haben Ilknur Suhta und Ayse Durmaz in ihrer Schulzeit erlebt. Die türkischen Kinder in Deutschland waren ihnen fremd, die deutschen Kinder sowieso. Ayse Durmaz erinnert sich noch mit Schrecken daran, wie sich die türkischen Jugendlichen in den Pausen auf Deutsch unterhalten haben, so dass sie nichts mitbekam. Und von Deutschen wurde sie oft beschimpft. Was sie besonders oft gehört hat: „Scheißtürken.“ Unvergessen ist auch die Frage einer Lehrerin nach den Terror-Anschlägen am „11. September“: „Wie fühlst Du Dich angesichts der Taten von Bin Laden als Muslima?“ Ayse antwortete mit einer Gegenfrage: „Wie fühlen Sie sich als Deutsche angesichts der Taten von Adolf Hitler?“
Projekttage in der Moschee?
Anfangs konnten die Mädchen kein Deutsch. „Und wenn Du kein Deutsch kannst, dann kannst Du auch kein Mathe“, sagt Ilknur Suhta und betont: „Aber ich bin doch nicht dumm, nur weil ich die Sprache nicht beherrsche.“ Eine Lehrerin, die mit einem Türken verheiratet ist, hat ihr viel geholfen. Ilknur hat längst nicht nur Deutsch, sondern auch die deutsche Kultur und sogar die christliche Religion kennengelernt. Als Kind hat sie mit ihren Mitschülern in der Kirche musiziert. Umgekehrt würde sie sich wünschen, dass es Projekttage in der Moschee gibt – damit deutsche Schüler die Lebenswirklichkeit der Türken besser kennenlernen. In Sachen Integration müssten sich beide Seiten aufeinander zubewegen, sagt Ilknur Suhta. Sie fände es beispielsweise toll, wenn es außer dem Schüler-Austausch mit Frankreich und England auch Partnerschaften mit Schulen in der Türkei gäbe. Dann hätten es die nächsten Schüler-Generationen nicht mehr so schwer wie sie und ihre Freundin Ayse.
Ilknur kam mit sechs Jahren nach Deutschland – und in die Grundschule. Ayse ist in Deutschland geboren worden, aber mit sieben Jahren in die Türkei gekommen. Ihre Eltern dachten damals daran, auf jeden Fall in die Heimat zurückzukehren. Damit das für die Kinder nicht zu schwierig wird, zogen sie um, als Ayse sieben Jahre alt war. Mit 14 kam sie zurück nach Deutschland. Nach einem halben Jahr in einer Vorbereitungsklasse kam sie in die achte Klasse einer Hauptschule. „Ich hatte keine ,beste Freundin’, bis ich auf dem WG Ilknur kennengelernt habe“, sagt Ayse Durmaz. „Das ist vorher sehr schwer gewesen. Das wirkt sich sogar auf den Charakter aus. Ich bin sehr zurückhaltend geworden. Selbst wenn ich etwas wusste, habe ich mich in der Schule anfangs nicht getraut, mich zu melden. Es bleibt Dir nichts anderes übrig, als auf Distanz zu gehen.“ Ilknur Suhta pflichtet bei: „Man möchte nicht verletzt werden.“ Sie schildert das Hauptproblem, das sich aus der Situation heraus ergibt: „Man weiß nicht, wo man hingehört.“
Selbst als Jura-Studentinnen ringen die jungen Frauen noch mit ihrer Identität. Ob sie sich als Türkinnen oder Deutsche fühlen? „Ich bin Türkin“, sagt Ayse ohne zu zögern. „Ich fühle mich hier fremd.“ Das habe nach wie vor mit der Sprache zu tun: „Ich denke türkisch.“ Und Ilknur? Sie überlegt und muss dann Schmunzeln: „Ich glaube ich denke auch Türkisch“ – obwohl sie inzwischen Deutsche ist. Im Gegensatz zu Ayse konnte sie sich anfangs auch kein Studium in der Türkei vorstellen. Je älter sie werde, desto mehr ändere sich diese Haltung bei ihr, stellt sie fest. Sie will nicht einmal mehr ausschließen, irgendwann ganz in die Türkei zu ziehen – dann allerdings als Rechtsberaterin einer deutschen Firma. Allerdings sieht die berufliche Zukunft schwieriger aus, als es die Freundinnen erwartet hatten. Als Türkinnen dachten sie im Rechtswesen eine „Marktlücke“ gefunden zu haben.
Doch schnell mussten sie erkennen, dass es viele türkischstämmige Juristen gibt – allerdings nicht so viele, die gleichzeitig mit dem türkischen Recht so vertraut sind, wie es Ayse Durmaz und Ilknur Suhta nach ihrem Jahr in der Türkei sein werden. Studieren wollen sie dort übrigens an einer Universität, an der als Hauptsprache Französisch gesprochen wird.
Andreas Ellinger, Südwest Presse Horb, Horber Chronik
Siehe auch:
Kommentar: Reicht ein Jura-Studium zur Integration? (10.06.2006)