Den Haß in positive Energie verwandeln
Veröffentlicht in: Berichte, Geschichte
Heute vor 60 Jahren ist Hedy Epstein den Nazis entkommen / Vortrag in Fischingen
Vor 66 Jahren wäre es ein Risiko gewesen, dem Vortrag von Hedy Epstein in Fischingen beizuwohnen. Denn nach dem Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 trauten sich viele Christen nicht einmal mehr in den Laden von Hedy Epsteins Eltern (siehe auch das AUSSERDEM).
Fischingen. Fast auf den Tag genau 60 Jahre, nachdem die 14jährige Jüdin Hedwig Wachenheimer aus NaziDeutschland fliehen konnte, hielt sie als 74jährige Hedy Epstein im Katholischen Gemeindehaus Fischingen einen Zeitzeugenvortrag.
Es war der 18. Mai 1939, an dem sie mit einem der sogenannten Kindertransporte als „Nummer 5580“ nach England kam. Diese Reise rettete ihr das Leben – trennte sie aber für immer von ihren Eltern. Die Nazischergen ermordeten Bella und Hugo Wachenheimer im Vernichtungslager Auschwitz (wir berichteten).
Keiner ist zu klein
Dennoch empfindet Hedy Epstein heute keinen Haß mehr, wenn sie aus den USA nach Deutschland kommt. „Es gab eine viel zu lange Zeit, wo auch ich gehaßt habe“, sagt sie. Aber sie hat erkannt, daß Haß sehr viel Energie aufzehrt, die es positiv einzusetzen gelte. Das ist eine ihrer Botschaften, die sie am Samstag weitergegeben hat. Und eine zweite Botschaft dieses Abends knüpft direkt daran an: „Niemand ist zu klein oder zu unwichtig, um etwas zu tun. Keiner kann alles tun, aber wenn jeder ein bißchen tut, wird die Welt besser werden.“
Sie selbst hat ihr Leben in diesem Sinne gestaltet. Indem sie aus ihrer Lebensgeschichte und der Leidensgeschichte ihrer Eltern berichtet, arbeitet sie gegen das Vergessen des Holocausts an. „Halte den Kopf hoch und vergiß Deine Eltern nicht“, stand im vorletzten Brief ihrer Mutter, den Tochter Hedwig aus dem Konzentrationslager von ihr bekam. Deshalb hält sie die Erinnerung an das Schicksal ihrer Eltern wach und bittet ihre Zuhörer darum, es weiterzuerzählen. Dabei betont die Zeitzeugin allerdings: „Erinnern ist nicht genug!“ So lautet auch der Titel ihrer Autobiographie, die vor wenigen Tagen im UnrastVerlag erschienen ist. Hedy Epstein setzt sich deshalb bis heute für Menschenrechte ein und engagiert sich gegen Kriege.
Niemand hat mit ihr gesprochen
Wenn sie sich in den USA beispielsweise gegen die Diskriminierung von Schwarzen einsetzt, weiß sie aus eigener Erfahrung nur allzu gut, wovon sie spricht. Als ihr Vater sie seinerzeit von der Volksschule ihres Heimatortes Kippenheim bei Freiburg in das Realgymnasium Ettenheim schicken wollte, wies sie der dortige Schulleiter zunächst ab, weil sie Jüdin war. Erst als sich der Vater als verwundeter Frontsoldat des Ersten Weltkrieges auswies, durfte sie auf die Schule gehen. Dort mußte sie allerdings viel durchmachen. „Die Pausen waren die schlimmsten Zeiten des Tages für mich“, erinnert sie sich. „Niemand hat mit mir gesprochen und niemand hat mit mir gespielt.“ Und obendrein hatte sie noch einen SS-Mann als Mathematiklehrer. Wenn er sie etwas fragte, legte er die Hand automatisch an seinen Revolver im rechten Stiefel oder richtete die Waffe sogar auf sie.
Am 10. November 1938, dem Tag nach der Reichspogromnacht, warf der Schulleiter sie schließlich von der Schule. Als sie daraufhin heimgehen wollte, fand sie das elterliche Haus jedoch verlassen vor. Später mußte sie mit ansehen, wie die Nazis ihren Vater zusammen mit anderen Männern unter Peitschenhieben durch die Straßen trieben. Zusammen mit Mutter und Tante versteckte sie sich in einem Speicherschrank. Kurz vor diesem Haus brachen die SA-Leute ihre Jagd auf Juden ab, um im Nachbarort weiterzumachen. Es war kurz vor zwölf Uhr – nicht nur auf dem Ziffernblatt.
Vier Wochen später kehrte ihr Vater schwer mißhandelt aus dem Konzentrationslager Dachau zurück. Ihre Eltern versuchten daraufhin abermals, Deutschland zu verlassen. Aber es klappte nicht. „Wieviele von Ihnen kennen jemanden in einem anderen Land, der finanziell für Sie bürgen würde“, fragte sie vor diesem Hintergrund in Fischingen. Gerade mal sechs von rund 40 Zuhörern hoben die Hände. „So war das damals auch“, sagte sie, „und man weiß ja, was mit den anderen passiert ist.“
Jeder hat es gesehen
Während sich Hedy bereits in England aufhielt, deportierten die Nazis ihre Eltern. Neben abfotografierten Dias mit ihren Eltern und Verwandten darauf, zeigte die Zeitzeugin Bilder von der Deportation in Kippenheim. Bilder, wie sie ein jeder Deutscher mindestens aus dem Geschichtsunterricht kennt. Aber die abgebildeten Menschen blieben an diesem Abend nicht anonym. Hedy Epstein: „Der Junge, der da durch das Tor geht, heißt Kurt Maier.“
Zusammen mit anderen Juden verschleppten ihn Hitlers Schergen am hellichten Tag. „Das hat jeder gesehen“, sagt die Überlebende mit Hinweis auf die angebliche Unwissenheit vieler Deutschen und deutet auf die vielen Schaulustigen drumherum. Praktisch keiner hat etwas dagegen unternommen. Einzig die Lebensmittelverkäuferin am Ort versorgte die Wachenheimers immerhin eine Zeit lang heimlich mit Nahrung. „Das ist Widerstand“, sagt Hedy Epstein. Aber den gab es zu selten und deshalb wurden ihre Eltern in Auschwitz ermordet.
Andreas Ellinger, Südwest Presse Horb, Sulzer Chronik
Siehe auch:
Bericht: 1939: Ein Abschied für immer (08.05.1999)
Kommentar: Zeitzeugen der Nazi-Herrschaft sterben aus (18.05.1999)